Wenn sich um 7.50 Uhr mit dem ersten Schellen unsere Schultüren öffnen, gehe ich mit den frühen Kindern gemeinsam hoch in unseren Klassenraum.
Bis 8.10 Uhr haben die Kinder Zeit, in aller Ruhe anzukommen.
Diese 20 Minuten sind reine Qualitätszeit und ich genieße diese ersten Augenblicke mit den Kindern sehr.
Während einige direkt munter darauflos plaudern und ich vom kleinen Bruder erfahre, der die Familie bei Nacht auf Trab gehalten hat, setzen sich andere Kinder ersteinmal allein an den Tisch und müssen die Müdigkeit überwinden.
Bis die Kinder hier ankommen, ist in der Regel schon eine Menge geschehen am Morgen. So wie wir, haben sie gute Tage und Momente, hektische Vormittage oder gar verschlafene.
Einige Kinder brauchen morgens einen kleinen Kopfstreichler, andere suchen von sich aus die Nähe, wieder andere suchen sich etwas aus dem Regal und spielen und arbeiten allein oder gemeinsam mit anderen Kindern.
Gemeinsam mit einigen Kindern hängen wir den Tagesplan auf und ich erfahre umgehend, dass der neue Hund die ganze Nacht über Schluckauf hatte und jetzt weiß man ja gar nicht, wie das enden wird.
Ganz aufgelöst ist das Kind und ich, die ich so gar keine Ahnung von Haustieren, insbesondere von Hunden habe, beruhige es und schlage vor, dass wir in den Büchern nachsehen, was Schluckauf bei Hunden bedeutet.
An einem Tisch wird gefrühstückt. Zwei Kinder fegen den an sich noch sauberen Raum.
Es wird viel berichtet, erzählt, gefragt.
Mir wird vorgelesen, mir werden Briefchen gebracht, jedes Kind grüßt freundlich und zu keiner anderen Tageszeit werde ich mit derart vielen Freundlichkeiten und Komplimenten begrüßt und bedacht.
Auch ich versuche, jedes Kind persönlich zu begrüßen und den Morgen mit freundlichen und netten Worten beginnen zu lassen.
Es gibt so gut wie nie Streit in dieser Zeit. Die Kinder sind so entspannt, wie selten. Es werden keine Erwartungen an sie gestellt. Sie müssen nicht "funktionieren" und dürfen einfach sie selbst sein:
Müde, aufgedreht, zappelig, still, traurig, albern, fröhlich, mitfühlend, distanziert....
In kleinen Gruppen spielen die meisten und greifen zu den Materialien aus unseren Freiarbeitsregalen. Phasenweise verschieben sich die Interessen. Heute kann ein Zauberwürfel spannend sein, morgen die Magnetbaukiste.
Wir sind mittlerweile ein eingespieltes Team, können uns aufeinander verlassen und wissen sehr viel voneinander.
Das Fundament ist Vertrauen.
In diesem täglichen 20 Minuten erfahre ich von den Sorgen und Nöten, von Arztbesuchen, Streitigkeiten, Essensgewohnheiten. Ich lasse mir vorlesen, lese selbst vor, lausche und beantworte Fragen und kann erkennen, wie der Tag für jedes Kind begonnen hat.
Ich weiß, dass man nicht lernen kann, wenn man sich Sorgen um den Hund macht, der an Schluckauf leidet und wenn das kleine Geschwisterbaby nachts weint, ist man morgens einfach sehr müde.
Jeder bringt seine ganz eigene Geschichte mit, jeden Morgen aufs Neue. Die Zeit zum Ankommen tut uns gut.
Wenn es um 8.10 Uhr zum zweiten Mal klingelt, räumen alle ganz selbstverständlich auf und wir treffen uns im Kreis.
Nun können wir gut beginnen, denn wir haben uns Zeit füreinander genommen. Zeit, für das, was uns früh am Morgen gut tut. Zeit für die Klassengemeinschaft, Zeit für Vertrauen.
Das Fatale ist nur: Wir Lehrer neigen zur Hetze. Wir lassen uns hetzen durch längst veraltetet Lehrpläne, immer neue Erlasse und Gesetze, Elternwünsche und den eigenen Ansprüchen.
Dabei kränkelt unser Schulsystem vor allem daran, dass wir uns zu wenig Zeit nehmen für die Dinge, die wirklich wichtig sind.
Und das sind nicht immer die Dinge, die im Lehrplan stehen.
Es ginge uns und den Kindern besser, wenn wir uns nicht mitreißen ließen, sondern mehr Qualitätszeit in den Schulalltag einbringen würden.
Dazu bedarf es im Grunde nur eines:
Den Mut, sich von der Papierschule zur Tatenschule zu bewegen.
Diesen Mut wünsche ich uns allen.
Und viel mehr von diesen täglichen 20 Minuten.
Hallo liebe Susanne!
Ich würde gerne das Nachdenken über einen offenen Anfang (oder wie auch immer man die Zeit nennen mag) in meinem Kollegium anstoßen. Aber schon jetzt weiß ich, dass einige Kollegen die zusätzliche Zeit zum eigentlichen Unterricht bemängeln werden. Wie ist es bei euch? Habt ihr jeden Tag den offenen Anfang? Machen alle Kollegen mit? Wird die Zeit irgendwie mit den Pflichtstunden verrechnet oder tatsächlich zusätzlich geleistet?
Herzliche Grüße
Steffi
vom 12.08.2018, 22.35