Die Balance zu halten zwischen dem, was Kinder zu Individualisten macht und dem Regelgefüge einer Gemeinschaft bzw. Institution wie der Schule ist nicht immer einfach.
Es gibt mittlerweile unzählige Bücher, die anprangern, dass unsere Kinder Egoisten sind, kleine Tyrannen, selbstbezogen, egozentrisch und kleine Prinzen und Prinzessinnen.
In einer Gruppe ist das anstrengend, manchmal wenig konstruktiv und uns als Lehrer oft ein Dorn im Auge.
Andererseits möchten wir die Kinder zu mündigen Bürgern erziehen, sie nicht mundtot machen, ihre eigene Meinung stärken, ihr Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl aufbauen und ihnen verdeutlichen:
"Du bist toll, so wie Du bist!"Und nun müssen wir Wege finden, zwischen beiden Elementen die Balance zu halten.
Entscheiden, wann ist es lohnenswert das Indviduelle zugunsten einer Gemeinschaft oder eventuell des eigenen Lernens aufzugeben bzw. auf Regeleinhaltung und Aufgabenformate zu bestehen.
Im ersten Schuljahr stehe ich sehr oft vor Situationen, in denen ich entscheiden muss: Machen lassen oder intervenieren.
Der bequeme Weg, der Mittelweg, ist nicht immer gegeben und man muss ad hoc entscheiden.
Mal passt es, mal passt es nicht.
Heute, so schrieb ich gestern, wollte ich mich ja mit dem LOSLASSEN beschäftigen und ich habe kläglich versagt.
Meinen Redeanteil wollte ich reduzieren, die Kinder mehr machen lassen, weniger Vorgaben machen, Freiheiten einräumen.
Ich fand, in der Theorie klang das einleuchtend und einfach.
Während man bei kleineren Handgreiflichkeiten ganz sicher sein kann, dass Individualität gerade mal zurückstecken sollte, sah es dann im Unterricht ganz anders aus.
Neulich noch offenherzig die Herzen geliebt, war ich heute sichtlich irritiert, als ich den gemalten Waggon eines Kindes sah. Mit Wasserfarbe und viel Liebe und Motivation gezeichnet - keine Frage.
Im Kreis jedoch hatten wir zuvor besprochen - übrigens eine Idee der Kinder - Äpfel zu zeichnen, um einen großen Apfelbaum zu erschaffen.
Gemeinsam einigten wir uns auf die Bildform und was entstehen sollte.
Nun sah ich also den Waggon.
"Das ist gar kein Apfel!", rief ein Kind und zeigte auf das Bild.
"Frau Schäfer, wir wollen doch Äpfel malen!""Das ist ein Auto!", erklärte der Künstler und weiter:
"Ich will lieber ein Auto malen!"Während ich noch ganz erleichtert war, weil ich das Auto noch nicht öffentlich als Waggon bezeichnet hatte, entwickelte sich der folgende Dialog:
"Wir haben gesagt, wir malen Äpfel und keine Autos!", sprach ein Kind der Klasse, das recht empört war über das Autobild.
"Ich mag gar keine Äpfel!", erwiderte der Autozeichner.
"Ja, aber man kann nicht immer malen was man will!", erklärte ein anderes Kind
"und ein Auto am Apfelbaum geht nicht!"Ein drittes Kind kam hinzu und ich lauschte gespannt:
"Wir haben Äpfel ausgemacht! Und Frau Schäfer wollte Mathe. Und nun malen wir Äpfel!" kurzes ernsthaftes Nachdenken des Kindes, dann:
"Oder wir tun so, als ob das Auto die Äpfel dann wegfährt!"Einstimmiges Nicken.
Alle zufrieden.
Mein Herz geht auf und ich bin stolz auf diese Kinder, die alles so viel einfacher regeln, als ich es je könnte.
Liebe Susanne,
es macht so viel Freude, an deinen Gedanken rund um " deine" Kinder teilhaben zu dürfen. Danke dafür!!! Immer wenn ich deine Einträge lese, geht mein Lehrer- und Schulleiterherz auf. Einfach wunderbar, welche Gedanken du dir machst, um jedes Kind so wie es ist, mit all seinen individuellen Bedürfnissen, zu fördern. Hut ab! Ich habe meine Klassenleitung nach langem Ringen mit mir doch zu Schuljahresbeginn abgegeben. Mir wurde die Doppelfunktion einfach zu viel und ich hatte das Gefühl, weder den Kindern noch der Schule für mich zufriedenstellend gerecht zu werden. Gerade aufgrund dieser Erfahrung finde ich es bewundernswert, wie du diesen Spagat schaffst.
Ganz herzliche Grüße
Birgit
vom 16.09.2016, 18.11
Liebe Birgit,
vielen herzlichen Dank für Deinen lieben und ausführlichen Kommentar.
Man darf nicht vergessen: Wir leiten Schule hier im Team, sprich, unsere Konrektorin und ich verstehen uns als Schulleitungsteam, das entlastet ungemein.
Zudem hält das Team uns, wann immer es geht, den Rücken frei.
:-)
Wir haben ziemliches Glück!
Liebe Grüße
Susanne